Unterwegs auf neuen Pfaden

Unterwegs auf neuen Pfaden

Außergewöhnliche Stadtführungen lenken die Aufmerksamkeit auf die versteckten Kostbarkeiten, die oftmals abseits der klassischen Touristenpfade zu finden sind. So tragen sie dazu bei, die Besucherströme zu entzerren.

Amsterdam ist bei Touristen beliebt. Rund 17 Mio. Besucher strömen jedes Jahr in die niederländische Hauptstadt, die gerade einmal 800.000 Einwohner hat – Tendenz rasant steigend. Die wachsenden Gästezahlen sind für das sogenannte Venedig des Nordens Fluch und Segen zugleich, denn die meisten Touristen haben dasselbe Ziel: Sie möchten Selfies vor dem berühmten Rijksmuseum machen, einen der legendären Coffeeshops besuchen und bei einer „Grachtentour“ im Boot die idyllischen Kanäle erkunden. Die Infrastruktur und die Einwohner der Stadt ächzen unter dem Touristenansturm. Vergleichbare Beispiele finden sich in vielen europäischen Metropolen. „Auch Städte haben Kapazitäten“, ist Vladimir Preveden, Managing Partner beim Beratungsunternehmen Roland Berger Austria, überzeugt. Werden diese überschritten, wirke sich das negativ auf das Urlaubserlebnis aus und ruiniere den Qualitätstourismus langfristig.

LENKEN STATT BESCHRÄNKEN

Ein drastischer Hebel, um die Situation zu verbessern, ist die Beschränkung der Besucherzahlen. Dubrovnik beispielsweise hat in seiner Altstadt Kameras zur Personenzählung installiert und will den Zustrom bei Bedarf verlangsamen oder gar stoppen. Doch auch sanftere Maßnahmen können langfristig Erleichterung bringen. Um die Besucherströme geografisch und zeitlich zu entzerren, brauche es Attraktionen außerhalb der Zentren, die nicht nur in der Hauptsaison attraktiv seien, meint Preveden. Dazu zählen außergewöhnliche Shoppingangebote ebenso wie Veranstaltungen oder besondere Bauwerke. Gefragt seien langfristige Masterpläne, die Stadt- und Tourismusplanung eng verknüpfen. So ist auch Amsterdam bemüht, den Fokus der Gäste auf Attraktionen außerhalb des Stadtkerns zu lenken. München hat es mit dem Bau des Museumsviertels und der „BMW Welt“ geschafft, Touristenmagneten wie das Hofbräuhaus und den Englischen Garten zu entlasten. Auch Wien will angesichts wachsender Besucherzahlen Maßnahmen setzen. Im Zuge der Tourismusstrategie 2020 gestaltet Wien sein touristisches Angebot polyzentrischer, indem neue „urbane Destinationen“ entwickelt und spannende „Grätzel“ außerhalb des 1. Gemeindebezirks auf die Agenda der Besucher gebracht werden. Auch Ausflüge zu attraktiven Zielen in der Region werden in der Vermarktung verstärkt hervorgehoben. Die Areale rund um den Hauptbahnhof und die neue Wirtschaftsuniversität, aber auch spannende Gebiete abseits der Innenstadt, wie beispielsweise das Brunnenviertel, der Karmeliterviertel und Freihausviertel, bieten sich dafür an. Diese Zonen verfügen bereits über eine geeignete Infrastruktur.

AUF ZIELGRUPPEN ZUSCHNEIDEN

Auch eine zielgruppenspezifische Gestaltung und Vermarktung des Angebots kann laut Preveden zur Entlastung der Städte beitragen. Familien hätten andere Bedürfnisse als Schulklassen oder Luxus-Shopper. Hier leisteten etwa themenspezifische Führungsprogramme einen wertvollen Beitrag. Auf aktive Städtereisende hat sich Personal Trainerin Ruth Riehle ausgerichtet, die mit „Sightjogging“ eine Alternative zum klassischen Führungsprogramm anbietet. Während sie mit ihren Gästen durch den Stadtpark sprintet und an legendären Wiener Beisln vorbeijoggt, erzählt sie ihren Kunden Anekdoten über die Wiener Sehenswürdigkeiten und das Leben in der Stadt. Auch Eisenstadt lässt sich im Laufschritt erkunden: Beim historischen „Jewish Sight-Running“ machen die Besucher einen Streifzug durch die jüdische Geschichte. Angeboten wird die Tour von Johannes Reiss, Direktor des Österreichischen Jüdischen Museums. Er möchte dazu anregen, die Stadt auch einmal zu verlassen, weil manche der wichtigsten historischen Orte nicht zentral liegen.

INTERAKTIVES KUNSTERLEBNIS

Der Tourismusverband Linz hat sich für den Kulturgast ein interaktives Führungsprogramm einfallen lassen. Beim „City.Art.Walk“ führen geschulte Guides in eineinhalb Stunden durch die Stadt, vorbei an Orten, die auf wichtige Ereignisse hinweisen, aber nicht auf den ersten Blick ersichtlich sind. Dialog und Interaktivität machten das Angebot aus, das dazu anregen sollte, Neues auszuprobieren und andere Blickwinkel auf Offensichtliches zu erhalten. So stellten die Teilnehmer beispielsweise gemeinsam eine Kunstaktion aus 2009 nach und träten damit in einen Diskurs zu Themen wie Kunst und Gesellschaft, erzählt Austria- Guide Sonja Kimeswenger.

AUF EIGENE FAUST

Damit Wiens Besucher auch auf eigene Faust die versteckten Kostbarkeiten der Stadt entdecken können, hat die Stadt Spaziergänge gestaltet, die auch virtuelle Anleitungen bietet. Die Tour „Innenhöfe, Durchhäuser und Pawlatschen“ führt in das authentische Wien: Die Besucher bestaunen Bürgerhäuser des 18. Jahrhunderts, blicken in die schlichten Innenhöfe, die sich oft hinter prunkvollen Fassaden verbergen. Auch Beispiele für die traditionellen „Durchhäuser“, also Häuser, die zwischen zwei parallel verlaufenden Straßen liegen, finden sich entlang der Route. Mit Anregungen aus den sozialen Medien gehen auch immer mehr Menschen auf individuelle Entdeckungsreise durch die Städte. Die Tipps anderer Reisender oder Einheimischer machen auf verborgene Sehenswürdigkeiten aufmerksam, die nicht in den Reiseführern zu finden sind – darunter gemütliche Schanigärten ebenso wie Industriedenkmäler mit morbidem Charme.

KURIOSE ENTDECKUNGEN

Unter den außergewöhnlichen Stadtführungen Wiens finden sich auch kuriose Angebote: Etwa die „Vienna Ugly Tour“, bei der ein gebürtiger Brite die Besucher zu 19 Architektursünden der Stadt führt. Vom gewöhnungsbedürftigen Ungarischen Kulturinstitut bis zu einem Umspannwerk inmitten des historischen 1. Gemeindebezirks führt der rund sechs Kilometer lange Spaziergang. Quinn will mit der Tour eine Debatte über Möglichkeiten und Chancen neuer Architektur in einer Stadt, die im Zentrum von imperialen Prachtbauten geprägt ist, anregen. Auch moderne Technologien finden Einsatz, um Touristen von überfüllten Zonen fernzuhalten: Mit der App „Going local“ startete Berlin einen Versuch, Touristen auch in die weniger frequentierten Bereiche der Stadt zu locken. Und vielleicht können sogar Hightechgeräte, die heute noch kurios wirken, einen Beitrag leisten: Der „Sneakair“, entwickelt von der Fluglinie easyJet, ist über GPS und Bluetooth mit einer App auf dem Smartphone verbunden und leitet seinen Träger mithilfe vibrierender Sensoren an. Die vernetzten Schuhe sorgen nicht nur dafür, dass sich die Gäste nicht verlaufen, sie können auch dabei helfen, aktuell überfüllte Plätze zu meiden.