Warum sich der Städtetourismus nicht neu erfinden muss

Warum sich der Städtetourismus nicht neu erfinden muss

Die COVID-19-Pandemie hat den Städtetourismus hart getroffen. Lesen Sie in diesem Beitrag, wie Ulrike Bruns (DER Touristik) und Norbert Kettner (WienTourismus) in der neuen Folge der Podcast-Serie „ÖW Global“ die derzeitige Situation analysieren.

Die Maßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie haben der Nächtigungsstatistik (Hochrechnung) zufolge zu starken Rückgängen gegenüber dem Vorjahr geführt: In der heurigen Sommervorsaison (Mai/Juni) sanken die Ankünfte um 73,9 Prozent und die Nächtigungen um 70,2 Prozent. Im Juni fällt diese Entwicklung mit einem Minus von 61,5 Prozent bei den Ankünften und 58,6 Prozent bei den Nächtigungen etwas geringer aus. Die gesamte Sommervorsaison hat sich in den einzelnen Bundesländern sehr unterschiedlich entwickelt: Kärnten verzeichnete die geringsten Verluste (-53,9 Prozent) und Wien die höchsten (-92,6 Prozent).

Städtetourismus leidet unter COVID-19-Maßnahmen besonders stark

Der Städtetourismus hat unter den Maßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie besonders gelitten. In der neuen Folge von ÖW Global schildern Ulrike Bruns, Head of Department City Breaks von DER Touristik (Deutschland), und Norbert Kettner, Geschäftsführer von WienTourismus den Status Quo des Städtetourismus. Gleichzeitig erörtern die beiden Experten mit der Moderatorin Kathrin Löffel (ÖW), wie Städte die schwierige Situation zu meistern versuchen und wie sich die Bedürfnisse ihrer Gäste verändert haben. 

Städtetourismus ist derzeit von wichtigen Märkten abgeschnitten

„Der Städtetourismus ist der erste Dominostein, der aufgrund der COVID-19-Pandemie gefallen ist und ich fürchte, dass er auch der letzte sein wird, der sich wieder aufrichtet“, bringt Kettner die aktuelle Lage für Wien auf den Punkt. Aufgrund von Reisebeschränkungen und fehlenden Flugverbindungen wäre die Bundeshauptstadt derzeit von etwa 60 Prozent seiner Märkte abgeschnitten. Der Anteil der Wien-Besucher aus dem D-A-CH-Raum beträgt laut Kettner 37 Prozent. „Ohne Gäste aus den USA und Asien bleibt die Situation schwierig“, gibt der Geschäftsführer von WienTourismus zu bedenken. Derzeit würden vor allem Urlauber aus dem Inland und Deutschland nach Wien kommen. „Die Treue der Gäste aus Deutschland ist spürbar und dafür möchte ich mich auch bedanken“, ergänzt Kettner.

Städtetourismus war bisher Wachstumstreiber für den gesamten Tourismus

Vor der COVID-19-Pandemie war der Städtetourismus ein großer Wachstumstreiber im österreichischen Tourismus: Zwischen den Jahren 2000 und 2019 haben sich die Übernachtungen in den acht Landeshauptstädten und Wien mit einem Plus von 108 Prozent mehr als verdoppelt. Wien alleine betrachtet erzielte in diesem Zeitraum sogar ein Wachstum von 130 Prozent. Zum Vergleich: österreichweit stiegen die Nächtigungen in diesem Zeitraum um 34 Prozent. „Städte haben in den letzten Jahren auch bei der Wertschöpfung eine unglaubliche Aufholjagd hingelegt“, verrät Kettner: Ein Österreich-Urlauber gibt derzeit durchschnittlich 188,- Euro täglich aus, ein Wien-Gast 276,- Euro und ein Kongress-Besucher 541,- Euro. „Der Städtetourismus sichert außerdem Ganzjahresjobs“, führte Kettner einen weiteren Vorteil für den gesamten Wirtschaftsstandort ins Treffen.

Die Herausforderungen für die Städte sind sehr ähnlich

Die COVID-19-Pandemie stellt alle, aber insbesondere die urbanen Destinationen vor sehr ähnlichen Herausforderungen, betont Bruns. Sie verweist gemeinsam mit Kettner auf folgende Aspekte:

  • Das Buchungsverhalten ist extrem kurzfristig: Bei DER Touristik erfolgen derzeit etwa 70 Prozent der Neubuchungen innerhalb von 6 Wochen vor Reiseantritt. „Für den Winter oder den nächsten Sommer wird derzeit so gut wie nicht gebucht“, verrät Bruns und ergänzt: „Der Kunde möchte sich wegen der derzeitigen Unsicherheit nicht festlegen und das ist auch nachvollziehbar.“ Als Reiseveranstalter müsse man extrem flexibel auf Kundenwünsche eingehen. „Wir müssen dem Kunden die Möglichkeit zu einer Umbuchung geben, um Komplett-Stornierungen zu vermeiden“, erläutert Bruns. Bei DER Touristik habe man dies mit Reisegutscheinen gelöst.
  • Sowohl die Endkunden als auch die Reisebüros hätten derzeit einen sehr hohen Informationsbedarf, besonders über Ein- und Ausreisebedingungen, Quarantänebestimmungen und Verpflichtungen zu Corona-Tests.
  • Die Urlauber legen sehr hohen Wert auf die Sicherheit einer Veranstalterreise. Die Kunden benötigen besonders bei Flugreisen Rückholmöglichkeiten und generell verlässliche Informationen vor Ort, betont Bruns. Kettner spricht ebenso von einer Renaissance des Veranstalters: „Die Menschen wollen Sicherheit und die bekommen sie dann, wenn sie eine von einem Veranstalter organisierte Reise buchen.“
  • Der Trend zu sicheren und nahen Reisezielen ist derzeit sehr stark. Bruns verrät: „Für Reisende aus Deutschland sind Wien und Amsterdam die stärksten Auslandsdestinationen, wobei Wien deutlich an erster Stelle liegt.“
  • Das Reiseziel sollte mit dem Auto oder der Bahn erreichbar sein. „Flugdestinationen sind derzeit schwieriger zu verkaufen“, bestätigt Bruns. Kettner ortet in diesem Zusammenhang eine „Renaissance der Eisenbahn“. Gleichzeitig verweist er darauf, dass Wien seit heuer über die besten Zugverbindungen Europas verfügt.
  • Die Preissensibilität ist sehr hoch. „Wir müssen sicherstellen, dass die Preise konkurrenzfähig sind und auch den Markt widerspiegeln“, sagt Bruns. Für Kettner ist das Thema der Preisgestaltung ein derzeit sehr schwieriges: „Einerseits ist es klar, dass die Betriebe Auslastung brauchen. Andererseits wissen wir aus der Vergangenheit, dass einmal massiv reduzierte Preise nur sehr schwer wieder zurück auf ein normales Niveau zu bekommen sind.“
  •  Urlaubsgäste haben derzeit ein sehr starkes Bedürfnis nach Natur und Bewegung aber auch ein Verlangen nach Messen, Kulturevents und Kongressen. Letzterem könne man derzeit leider nicht oder nur sehr eingeschränkt nachkommen, räumt Kettner ein.
  • Städtetouristen sind derzeit nicht so sehr an den großen Attraktionen interessiert, da sie dort Menschenansammlungen befürchten. Sie wollen auch andere Plätze entdecken und auch ein bisschen raus aus der Stadt, meint Bruns.

Städte offerieren Open-Air-Events, Ausflüge ins Umland und Angebote für Einheimische 

Die Konzepte, mit denen die Städte auf die geänderten Bedürfnisse der Gäste reagieren, sind dabei durchaus ähnlich. Bruns bringt hier die Destinationen Dresden, Hamburg und München als Beispiel und Kettner thematisiert einige aktuelle Initiativen aus Wien: So bieten die Dresdner Kulturinseln verschiedene kostenfreie Open-Air-Veranstaltungen an markanten Plätzen der Stadt an. Beim „Sommer der offenen Weingüter“ können Gäste Winzer des Dresdner Umlandes besuchen und lernen so das Umland der sächsischen Metropole kennen.
 
Mit „Die ganze Welt in Deiner Stadt“ will Hamburg die Bewohner dazu bewegen, ihre Heimatstadt zu entdecken. Die Hamburg Card Local soll dabei der ideale Begleiter für die Weltreise in der Hansestadt sein. So erfahren die Besucher der eigenen Stadt beispielsweise, warum das Treppenviertel in Blankenese seinem Titel als „Côte d’Azur Hamburgs“ alle Ehre macht.
 
München wiederum versucht mit dem Open-Air-Programm „Sommer in der Stadt“ die Absage des Oktoberfestes vergessen zu machen. Gleichzeitig kooperiert die Stadt mit dem oberbayrischen Umland und bietet Stadt-untypische Aktivitäten wie Wandern und Radfahren.
 
Beim Wiener Kultursommer sorgen über 2.000 Künstler bei etwa 800 über die ganze Stadt verteilte Acts für besondere Erlebnisse. Ähnlich wie Hamburg bietet Wien mit der Vienna City Card Experience Edition ein besonderes Angebot für Einheimische. Kettner resümiert: „Derzeit sehen wir in ganz Europa den Trend, dass Kulturschaffende oder Menschen, die draußen sein wollen, den öffentlichen Raum zurückerobern.“

Den typischen Städtetouristen gibt es nicht mehr’

Die bereits länger bestehenden aber nun neu geschnürten Angebote der Städte sprechen mittlerweile fast alle Zielgruppen an. „Den typischen Städtetouristen gibt es gar nicht mehr“, meint Bruns. Mittlerweile würden sowohl jüngere, als auch Familien und ältere Reisende urbane Destinationen wählen. „Wir orten eine Sehnsucht nach der Stadt“, betont Kettner. Er gibt zu bedenken, dass es sich bei den Aufenthalten in den Städten meist um Zweit- oder Dritturlaube handelt.

Die richtigen Angebote sind grundsätzlich vorhanden 

Die COVID-19-Pandemie hat das Bedürfnis von Städtetouristen nach einem internationalen, kosmopolitischen und kulturellen Erlebnis nicht verändert, betont Kettner. Darum würden die richtigen Angebote auch bereits existieren, schlussfolgert Bruns und betont. „Sie müssen nur neu kombiniert und anders kommuniziert werden.“ Als Beispiel dafür verweist Bruns auf eigene Angebote, die Wien mit der Weinregion Wachau oder Salzburg mit einem Wanderurlaub verbinden. Für Bruns würde es keinen Sinn machen, kurzfristig die komplette Strategie zu ändern. „In der Kommunikation müssen wir sehr flexibel sein und gut zuhören, was unsere Kunden wollen“, betont Kettner und ergänzt: „Wir wollen einen nachhaltigen und sinnstiftenden Städtetourismus und an diesen Zielen halten wir auch fest“, verweist Kettner auf die im vergangenen Jahr beschlossene „Visitor Economy Strategie 2025“. Diese müsse man aufgrund der aktuellen Situation zeitlich neu aufsetzen, die Inhalte würden aber feststehen, so der Geschäftsführer von WienTourismus. Trotz der aktuell schwierigen Rahmenbedingungen bleibt Kettner optimistisch: „Das Grundbedürfnis nach Reisen bleibt und ist dem Menschen nicht mehr auszutreiben.“