Der Wiener Zentralfriedhof oder Père Lachaise in Paris ziehen nicht nur zu Allerheiligen Besucher an. Wie Friedhöfe mit Promis und Kunst, Flora und Fauna, lebendiger Musik und morbidem Schmäh punkten.
Florian Wörgötter
Was haben der Totenwecker und der Herzstich gemeinsam? Beide stellten im 18. Jahrhundert sicher, dass bloß kein Mensch lebendig begraben wird. Der Totenwecker bezeichnete eine Schnur, die vom Bein der Leiche ans Bett des Totengräbers führte. Den hätte jede Regung sofort alarmiert, sollte der Tote keinen ruhigen Schlaf finden. Der Herzstich war der finale Sicherheitscheck mittels Dolchstoß, der das allerletzte Risiko des damals allseits gefürchteten Scheintodes beseitigte. Schauergeschichten wie diese erfahren Besucher des Wiener Zentralfriedhofs, wenn sie eine Grabführung buchen oder das Bestattungsmuseum aufsuchen.
Der Wiener Zentralfriedhof ist ein beliebter Anziehungspunkt für Touristen. „Wir erkennen auch nach Allerheiligen einen steigenden Trend zum Friedhofstourismus“, sagt Cornelia Fassl vom Marketing des Wiener Zentralfriedhofs. „Unser Friedhof bietet mehr als nur Grabstätten und Totenstille.“ Hauptattraktion für Touristen sind die tausend Ehrengräber von Musikern, Schauspielern und Politikern.
Am meisten frequentieren die geschätzt drei Millionen Besucher im Jahr die Komponistengruppe um Beethoven und Brahms, Strauß, Schubert und Lanner. „Japanische Touristen buchen sogar eigene Reiseangebote, um an den Todestagen deren Gräber zu würdigen“, sagt Fassl. Fans pilgern zum Grab von Pop-Legende Falco und Kunstinteressierte rätseln über den Tiefgang der pinkfarbenen Grabskulptur von Franz West. Den Kleinsten wird beim Wiener Ferienspiel in humorvollen Führungen spielerisch die Angst vor dem Tod genommen.
„Wir wollen weg vom Image, dass ein Friedhof totenstill sein muss“, erklärt Fassl den neuen Schwerpunkt auf Konzerte und Lesungen. „Hauptsache: pietätvoll.“ Das Gratis-Open-Air „Nachklang“ etwa vereint alle zwei Jahre vor der Karl-Borromäus-Kirche klassische und moderne Musik. „Als A3 damals ‚Es lebe der Zentralfriedhof‘ gesungen haben, ist das Publikum abgehoben“, so Fassl. Kritik vonseiten der Kirche sei bis heute keine zu hören gewesen – und die Verstorbenen hätten sowieso einen festen Schlaf. Eine Halloween-Party wird am Wiener Zentralfriedhof aber kaum jemals stattfinden.
Wie schon eine „Universum“-Dokumentation des ORF gezeigt hat, beherbergt der Zentralfriedhof im Süden Wiens ein Naherholungsgebiet mit lebendiger Flora und Fauna. „Einheimische wie Touristen joggen durch den Naturgarten, beobachten Rehe im Waldfriedhof oder verweilen im Sinne von Feng-Shui im Park der Ruhe und Kraft“, erklärt Fassl das Bedürfnis der Besucher nach Ruhe und Erholung – fernab von Trauer und Verlust.
Wer das 2,5 Millionen Quadratmeter riesige Areal des zweitgrößten Friedhofs Europas erkunden will, fährt entweder im Bus der Wiener Linien durch den Park, bucht eine Fiakerfahrt für 50 Euro die halbe Stunde, mietet eines der neuen E-Bikes – oder bummelt zu Fuß über das Wegenetz mit einer Gesamtlänge von 80 Kilometern.
Auch in München verbinden Friedhöfe lokale Kunst und Kultur mit Stadtgeschichte und Natur. Daher hat die Stadt 2016 beschlossen, einen Teil ihrer 29 Friedhöfe für Touristen attraktiver zu machen. Im Alten Südfriedhof wird gerade eine Machbarkeitsstudie für ein Informationszentrum zur Geschichte des Friedhofs durchgeführt und im Münchner Waldfriedhof wurde die Sektion „Künstlergräber“ restauriert. Die beiden Friedhöfe sind Mitglieder der „Vereinigung bedeutender Friedhöfe Europas“ (ASCE) und gehören bald – wie schon der Wiener Zentralfriedhof – der Europäischen Route der Friedhofskultur an. Die Route wurde 2001 als Kulturweg des Europarats ins Leben gerufen, um ein breites Publikum auf historische Begräbnisplätze als touristische Attraktionen aufmerksam zu machen.
In München tragen Friedhofsführungen und Veranstaltungen wie „Tag des Denkmals“, „Nacht der Umwelt“ und „Lange Nacht der Museen“ dazu bei, Bewusstsein für die Bekanntheit der Friedhöfe zu schaffen. Allerdings, betont die Stadt, seien Friedhöfe keineswegs touristische Attraktion, sondern in erster Linie Orte des Gedenkens und der Trauer, der Stille und der Kraft.
Friedhöfe würden wegen der Prominenten-Gräber zwar als Teil des touristischen Angebots in Reiseführern genannt und Stadtführer auch mit Fokus auf Friedhöfe ausgebildet, allerdings spiele das Thema Friedhofstourismus im Tourismusmarketing strategisch keine zentrale Rolle, heißt es seitens München Tourismus.
Einen stärkeren touristischen Stellenwert besitzt der größte Friedhof von Paris, Le Cimetière du Père-Lachaise. Der weltweit erste Parkfriedhof aus dem Jahr 1804 zieht jährlich um die 3,5 Millionen Besucher an. „Père Lachaise ist ein Museum wie der Louvre – nur in frischer Luft und ohne die Menschenmassen“, sagt Reiseführer Alain Queffurus. Neben Touren zum Schloss Versailles und dem Eiffelturm führt er – als einer von wenigen – auch deutschsprachige Besucher über den Friedhof im Osten von Paris. Alain weiß, dass die Reisenden Ruhe suchen von den Massentouristen auf dem Eiffelturm. Die meisten Touristen besuchen erst beim zweiten Parisaufenthalt die von Hügeln, Tälern und Gewässern umgebenen Gräber, nachdem die im Ausland häufiger beworbenen Sehenswürdigkeiten abgehakt sind.
Was fasziniert die Menschen am Père Lachaise? „In erster Linie kommen die Touristen wegen der Kunst“, sagt Alain. Eine Tour entlang der Grabskulpturen und Mausoleen illustriert die Kunstgeschichte des 19. Jahrhunderts bis heute – vom Jugendstil über den Art déco bis zur Kunst der Gegenwart. „In zweiter Linie strömen die Besucher zu den rund 300 Prominenten-Gräbern.“ Interessieren sie sich für Musik, führt Alain sie zu den Grabstätten von Jim Morrison, Édith Piaf und Frédéric Chopin. Wollen sie Kunst und Bildhauerei sehen, zeigt er ihnen die Grabskulptur des Malers Eugène Delacroix oder das Kupferrelief des Bildhauers Théodore Géricault. Lediglich eine Minderheit der Touristen sucht nach Spiritualität – obwohl jede Konfession ihren Platz am Friedhof findet.
Wie der Tod zum Leben gehört, so hat auch die Trauer ihr Recht auf Humor. Dass der Schmäh nicht einmal am Grab bis zur letzten Pointe pietätvoll sein muss, zeigt der Museumsfriedhof im Tiroler Kramsach. Im privaten Freilichtmuseum des Steinmetzmeisters Hans Guggenberger sind seit 1965 humorvolle Grabinschriften aus dem 18. und 19. Jahrhundert zu bewundern: „Hier liegt in süßer Ruh, erdrückt von einer Kuh: Franz Xaver Maier. Daraus sieht man, wie kurios man sterben kann.“ Weitere Schmankerl der hohen Kunst der tiefgründigen Andacht aus dem Alpenraum: „Hier ruht der Brugger von Leichteithen. Er starb an einem Blasenleiden. Er war schon je ein schlechter Brunzer, drum bet für ihn ein Vaterunser.“ Oder: „Hier ruht Adam Lentsch. 26 Jahre lebte er als Mensch, 37 Jahre als Ehemann.“
Jedes Jahr besuchen rund 200.000 Menschen diese „Zeugnisse des urwüchsigen Volkshumors im Alpenland“, wie es auf der Webseite des Betreibers Sagzahnschmiede heißt. „In diesem ‚Friedhof ohne Tote‘ kann der Besucher – unter Schmunzeln bis zum befreienden Lachen – über das Versöhnliche von Werden und Vergehen nachdenken.“ Die wichtigste Erkenntnis daraus für jeden Friedhofsbesuch: Der Tod muss nicht immer zuletzt lachen.